
10.11.2025
TRAVEL STORYS
zwischen tik tok und truemmern
Wir kommen nachmittags in Mosul an. Es ist der 25.10.2025, es ist noch ziemlich warm und wir haben davor einige Checkpoints passiert, um mit dem Van vom kurdischen Teil des Iraks nach Federal Irak zu kommen. Mosul erlangte traurige Berühmtheit, da die Stadt von 2014 bis 2017 vom IS besetzt war. Hier wurde das Kalifat ausgerufen und noch immer befindet sich die Stadt im Wiederaufbau.
Auf unserem Parkplatz angekommen sind wir erstmal sprachlos, denn dieser befindet sich inmitten der Trümmer der ehemaligen Altstadt. Charly steht dort, wo vor 15 Jahren Menschen noch ein Zuhause hatten. Der Anblick ist krass.
Um uns wirklich ein umfassendes Bild machen zu können, haben wir uns dazu entschlossen, die Stadt mit einem lokalen Guide zu erkunden. Moomen ist fast so alt wie ich, ein Jahr jünger, und hat all die Jahre Mosul nie verlassen.



Das bedeutet also auch, seine Kindheit sah ganz, ganz anders aus als meine. Als ich entspannt im Sandkasten im beschaulichen Schwarzwald gespielt hatte, herrschte seit gut 20 Jahren Saddam Hussein über sein Heimatland. Als ich eingeschult wurde, wurde eben dieser eliminiert und die Amerikaner befanden sich im Krieg mit dem Irak. Es folgten Jahre des Chaos und der Instabilität, nachdem die Truppen abgezogen worden waren. Der perfekte Nährboden für den IS. Als ich mit Jonas meinen ersten Campingtrip unternahm, brach in Mosul die Hölle auf Erden los. Der IS besetzte die Stadt und zwang die Bevölkerung, nach seinen islamischen strengen Regeln zu leben.
Frauen wurden zur Verschleierung gezwungen, wer zu den Gebetszeiten nicht in die Moschee eilte, landete im Gefängnis. Wer die Kleiderordnung nicht befolgte, wurde bestraft. In Schulen wurden die Kinder gebrainwasht. Es gab oft Wochen oder Monatelang kein Strom oder Wasser. Kein Internet für drei Jahre.
Verstöße wurden bestraft, im „besten“ Fall mit ein paar Schlägen, im schlimmsten Fall mit öffentlicher Hinrichtung oder Steinigung, vor den Augen aller und der Angehörigen.
Moomens Erzählungen hinterlassen eine Gänsehaut und Sprachlosigkeit. Natürlich war uns diese schreckliche Zeit ein Begriff, aber hautnah diese Zerstörung zu sehen und von einem Zeitzeugen im gleichen Alter erzählt zu bekommen, hinterlässt noch mal ein ganz anderes Gefühl.
Wir wandern gemeinsam durch den Bazar, einen Ort voll blühendem Leben. Es duftet nach Gewürzen und getrockneten Früchten und direkt daneben liegt die zerstörte Altstadt. Zwei Kontraste so dicht beieinander. Der Bazar ist lebendig, es wird gefeilscht und wir treffen einen Fischverkäufer, der seine Fische im TikTok-Livestream ausnimmt.
Wenige Meter weiter, die riesigen Trümmerhaufen der Altstadt. An ein paar Stellen wird langsam aufgebaut, auf vielen der Häuser findet sich der Schriftzug „Safe“. Das bedeutet, diese Häuser wurden auf Minen und Blindgänger gecheckt und sind theoretisch begehbar, abgesehen natürlich von der Gebäudesubstanz. Wir laufen durch die Trümmer und können es uns kaum vorstellen. Hier hatte sich der IS verschanzt und die Bewohner als lebendiges Schutzschild benutzt.



Wir finden in der Altstadt neben den Überresten von Häusern und Moscheen auch die von Kirchen und jüdischen Gebäuden. Vor der Besetzung haben hier Menschen verschiedener ethnischer Gruppen und Religionen ein gemeinsames Miteinander gelebt.
Wir laufen durch weitere Teile der Stadt, das Leben ist meistens zurückgekehrt. Wir landen in einer Horde von Schulkindern, die uns nach Schulschluss freudig zuwinken. Jungen wie Mädchen. Wir laufen durch weitere Viertel mit zerstörten Häusern, mit Wohnhäusern voller Einschusslöcher oder zerstörten Gebäuden, in denen im Erdgeschoss wieder Läden entstehen.
Bei einer Teepause frage ich Moomen, wie er die Iraker:innen in drei Worten beschreiben würde. Er überlegt und lacht: Drei Worte nur? Schließlich meint er: „Keep going, passionate and strong.“
Schon vorher haben wir über die Resilienz der Bewohner:innen gesprochen. Die Stadt heilt, die Menschen machen weiter. Sie haben all das nicht vergessen, aber denken auch nicht mehr täglich daran, weil das Leben weitergehen muss, weil es ihnen nicht hilft, über all das Schlechte der Vergangenheit zu grübeln. Dafür haben sie schon zu viel Schlechtes erlebt.
Ein weiterer Stopp ist die große al Nouri Moschee mit dem schiefen Minarett. Hier hat der IS-Führer, der selbsternannte Kalif Abū Bakr al-Baghdādī, damals seinen einzigen öffentlichen Auftritt gehabt und in einer Ansprache das Kalifat ausgerufen. Anschließend wurde vom Minarett die schwarze Flagge gehisst. Es ist verrückt, genau vor dieser Kanzel zu stehen, auf der einst der Kalif stand.
Als das irakische Militär und die Peschmerga (das sind die militärischen Truppen aus Kurdistan) Mosul zurückeroberten, wurde die Moschee vollkommen zerstört und der IS sprengte alles in die Luft. Übrig blieb ein einziger Trümmerhaufen. Die Moschee und das Minarett wurden originalgetreu wieder aufgebaut, mit den selben Steinen, und erst vor wenigen Wochen wurden sie fertiggestellt. Vor Ort ist es kaum zu glauben, was hier alles geschah.



Die Zeit mit Moomen war auf jeden Fall sehr interessant und trotz allem auch lustig. Wie viele seiner Generation ist er eigentlich gut ausgebildet, zusätzlich kommt er aus einer liberalen und weltoffenen Familie. Er ist kaum religiös, seine vier Schwestern haben allesamt studiert und arbeiten als Ärztinnen, Ingenieurinnen oder Lehrerinnen. Er hat Englisch studiert und keinen Job gefunden. Jetzt ist er Tourguide und zeigt den Touristen, die sich nach und nach immer mehr nach Mosul trauen, seine Stadt. Der Job liegt ihm, er ist sprachgewandt, hat ein Auge für schöne Fotos und macht an den richtigen Stellen einen Witz.
Er hat einen großen Traum: Er möchte all das Geld, das er verdient, sparen und dann mit dem Auto nach Europa fahren und Europa bereisen.
Wir drücken ihm die Daumen und können uns hoffentlich mit der gleichen Gastfreundschaft irgendwann bei ihm revanchieren. Shukran!
Die Tage in Mosul beschäftigen uns noch eine ganze Weile, es ist einfach so vieles gleichzeitig. All die Trümmer, all die Scherben und Zerstörung und gleichzeitig ist in dieser Stadt bereits wieder so viel Herz und Leben. Die Menschen schauen positiv in die Zukunft, begrüßen uns mit einer Freude im Herzen, die uns sehr berührt. Wir hören Jubelschreie, als Real Madrid gegen Barcelona gewinnt, hören Kinderlachen und wünschen diesen Menschen einfach nur, dass sie endlich Ruhe und Frieden finden können.